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Aktenwidrige Feststellung versus willkürliche Beweiswürdigung
Der vorliegende Binnenschiedsentscheid betrifft in der Sache die Ausdehnung von Schiedsvereinbarungen auf Dritte und bietet Gelegenheit, sich die einzelnen Ausdehnungskonstellationen zu vergegenwärtigen. Interessant erscheint in diesem Rahmen auch die Abgrenzung des Bundesgerichts zwischen aktenwidrigen Feststellungen und willkürlicher Beweiswürdigung. Nur im ersten Fall steht die Willkürrüge zur Verfügung, womit die Abgrenzung praktisch relevant ist.
Kommentar von Simon Gabriel zu Urteil 4A_82/2016 vom 6. Juni 2016
Sachverhalt
[1] Die Aktiengesellschaften D und E schlossen am 15. Februar 1980 einen Rahmenvertrag über den Betrieb einer Abwasserreinigungsanlage ab. Artikel 2.4 Rahmenvertrag lautete wie folgt: «D.⸏ und E.⸏ garantieren sich gegenseitig, dass ihre genannten Tochtergesellschaften und deren Vertreter sämtliche ihnen in diesem Vertrag zugedachten Pflichten erfüllen» (E. A.a). Der Rahmenvertrag enthielt in Artikel 19 eine Schiedsvereinbarung für ein Ad hoc Schiedsgericht mit Sitz in Basel. Es wurden zudem Schweizer Recht und die Bestimmungen des Konkordates vom 27. März 1969 über die Schiedsgerichtsbarkeit für anwendbar erklärt.
[2] Infolge Restrukturierungen wurde 1995 das Chemiegeschäft von D an die Aktiengesellschaft A ausgegliedert. Die Ausgliederung wurde in einem Umbrella Agreement geregelt (E. A.a). Artikel 9.1 Umbrella Agreement lautete wie folgt: «Assumption of Guarantees. A.⸏ undertakes to assume as per the Closing Date all guarantees, letters of comfort and undertakings of similar nature of A.⸏ Affiliates» (E. 6.2.2).
[3] Im Jahr 1996 fusionierten die D und E (also die ursprünglichen Parteien des Rahmenvertrags) zur Aktiengesellschaft B (E. A.a).
[4] Am 15. Dezember 2014 leitete B im Zusammenhang mit der Stilllegung der erwähnten Abwasserreinigungsanlage ein Schiedsverfahren gegen A ein. Sie beantragte, A sei zu verpflichten, insgesamt mindestens EUR 10’111’140.78 nebst 19.6% MWST, zuzüglich Verzugszinsen an eine im Entscheid nicht näher definierte C S.à.r.l. zu bezahlen. Eventualiter seien die verlangten Beträge an B zu bezahlen. A bestritt unter anderem die Schiedszuständigkeit.
[5] Zusammengefasst klagten im Schiedsverfahren also die zwischenzeitlich fusionierten Parteien des Rahmenvertrags (B) gegen die ausgegliederte Chemiesparte der einen Fusionspartei (A).
[6] Mit einem selbständig eröffneten Zwischenentscheid über die Zuständigkeit vom 18. Dezember 2015 wies das Ad hoc Schiedsgericht die Unzuständigkeitseinrede von A ab (E. B., 1.2). Es hielt fest, dass A und B von der subjektiven Tragweite der Schiedsvereinbarung erfasst seien. B sei unstreitig die Rechtsnachfolgerin einer Unterzeichnerin des Rahmenvertrags. A sei aufgrund von Artikel 2.4 Rahmenvertrag an die Schiedsvereinbarung gebunden. Diese Klausel sei als garantieähnliche Verpflichtung und nicht bloss als reine Patronatserklärung einer Muttergesellschaft auszulegen. Die Schiedsvereinbarung sei daher im Sinne eines Nebenrechts von D auf A mitübergegangen (E. B).
[7] Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragte A dem Bundesgericht die Aufhebung von Dispositiv-Ziffern 1 (Zuständigkeit), 5 und 6 (Kosten- und Entschädigungsfolgen) des Schiedsentscheids vom 18. Dezember 2015. Weiter beantragte sie die Feststellung der Unzuständigkeit des Schiedsgerichts für die zu beurteilende Streitsache. Eventualiter beantragte sie, die Sache zur Neubeurteilung an das Schiedsgericht zurückzuweisen (E. C).
[8] B beantragte die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Entscheid
[9] Es handelt sich vorliegend um einen Binnenschiedsfall. Das Bundesgericht verwies einleitend auf die anwendbaren Regeln über die interne Schiedsgerichtsbarkeit gemäss dem 3. Teil der Schweizer Zivilprozessordnung (Art. 353 ff. ZPO). Diese ersetzen gemäss Bundesgericht die früher geltenden Bestimmungen des Konkordates vom 27. März 1969 über die Schiedsgerichtsbarkeit (E. 1.1).
[10] A rügte vor Bundesgericht, das Schiedsgericht habe sich zu Unrecht für zuständig erklärt (E. 2). Eventualiter habe es den Anspruch von A auf rechtliches Gehör verletzt (E. 4). Zudem prüfte das Bundesgericht auf weitere Rüge von A hin, ob der Schiedsentscheid willkürlich im Sinne von Artikel 393 lit. e ZPO war (E. 5.3).
[11] Zur Begründung der Unzuständigkeitsrüge nach Art. 393 lit. b ZPO machte A geltend, sie selbst sei an die Schiedsvereinbarung nicht gebunden. Das Schiedsgericht habe den Rahmenvertrag und das Umbrella Agreement falsch ausgelegt und diesbezüglich auch den Sachverhalt unzutreffend gewürdigt (E. 2.1).
[12] Das Bundesgericht hielt zunächst fest, dass die Zuständigkeitsrüge nach Artikel 393 lit. b ZPO jener für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in Artikel 190 Abs. 2 lit. b IPRG entspreche (E. 2.2). Die korrekte Anwendung des Rechts werde somit frei geprüft. Sachverhaltsrügen seien jedoch grundsätzlich unzulässig und ausschliesslich im Rahmen einer zulässigen Rüge im Sinne von Art. 393 ZPO möglich (also im Rahmen der Willkürrüge oder wenn ausnahmsweise Noven berücksichtigt werden; E. 2.2 mit Hinweis auf Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2015 vom 25. Februar 2016 E. 3.1 und BGE 140 III 477 E. 3.1). Mit einer Beschwerde gegen einen Zwischenentscheid wegen fehlender Zuständigkeit des Schiedsgerichts könnten auch die weiteren Rügen nach Art. 393 ZPO erhoben werden, sofern sie mit der Zuständigkeit zusammenhängen (BGE 140 III 477 E. 3.1).
[13] Weiter bestätigte das Bundesgericht seine langjährige Praxis, wonach eine Schiedsvereinbarung (als Ausnahme zum Grundsatz der Relativität vertraglicher Verpflichtungen) unter gewissen Voraussetzungen auch Personen binde, die die Vereinbarung nicht unterzeichnet haben und darin auch nicht erwähnt werden. Exemplarisch erwähnt das Bundesgericht Abtretung einer Forderung, einfache oder kumulative Schuldübernahme oder Vertragsübernahme (E. 2.3; mit Hinweis auf BGE 134 III 565 E. 3.2 und BGE 129 III 727 E. 5.3.1).
[14] Das Bundesgericht verwarf die Rüge, wonach das Schiedsgericht Artikel 2.4 des Rahmenvertrags unrichtig ausgelegt und rechtlich nicht hinreichend qualifiziert habe. Es bestätigte vielmehr die Auslegung des Schiedsgerichts. Demnach handelte es sich bei Artikel 2.4 Rahmenvertrag um eine übertragbare Verpflichtung im Sinne von Artikel 176 OR (Schuldübernahme) oder aArtikel 181 OR (Geschäftsübernahme). Diese Qualifikation reicht gemäss Bundesgericht für einen Entscheid über die Zuständigkeit aus (E. 3.3.1).
[15] Zur Begründung der Rüge der Gehörsverletzung nach Art. 393 lit. d ZPO und der Willkürrüge nach Art. 393 lit. e ZPO argumentierte A: (i) Das Schiedsgericht habe die Entstehungsgeschichte des Rahmenvertrags unberücksichtigt gelassen (E. 4). (ii) Das Schiedsgericht habe verschiedene, angeblich offensichtlich aktenwidrige Feststellungen gemacht (E. 5). (iii) Das Umbrella Agreement sei unzutreffend ausgelegt worden (E. 6).
[16] Zur Rüge der Gehörsverletzung wiederholte das Bundesgericht die bisherige einschlägige Rechtsprechung mit dem Hinweis, dass die Rechtsprechung zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit auch für Binnenfälle anwendbar sei (E. 4.1). Danach wies es die Rügen der Gehörsverletzung mit Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Rahmenvertrags ab: A habe insbesondere pauschale Behauptungen aufgestellt und mittels einer Chronologie der Ereignisse samt Situationsplan ein unzulässiges neues Beweismittel eingebracht (E. 4.2).
[17] Zur Willkürrüge aufgrund offensichtlich aktenwidriger Feststellungen verwies das Bundesgericht auf die engen Grenzen dieser Rüge. Insbesondere äusserte sich das Bundesgericht zur relevanten Abgrenzung zwischen (i) der zulässigen Rüge offensichtlich aktenwidriger Feststellungen und (ii) der unzulässigen Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung wie folgt: «Offensichtlichaktenwidrige tatsächliche Feststellungen im Sinne von Art. 393 lit. e ZPO trifft das Schiedsgericht, wenn es sich infolge Versehens mit den Akten in Widerspruch gesetzt hat, sei es, dass es Aktenstellen übersehen oder ihnen einen anderen als den wirklichen Inhalt beigemessen hat, sei es, dass es irrig davon ausgegangen ist, eine Tatsache sei aktenmässig belegt, während die Akten in Wirklichkeit darüber keinen Aufschluss geben. Offensichtliche Aktenwidrigkeit ist nicht mit willkürlicher Beweiswürdigung gleichzusetzen, sondern liegt nur vor, wenn das Gericht bei der Beweiswürdigung von unrichtigen tatsächlichen Prämissen ausgeht; das Ergebnis und die Art und Weise der Beweiswürdigung sowie die darin liegenden Wertungen sind nicht Gegenstand der Willkürrüge, sondern einzig Tatsachenfeststellungen, die von keiner weiteren Würdigung abhängen, weil sie mit den Akten unvereinbar sind» (E. 5.2).
[18] Schliesslich behandelte das Bundesgericht die Rüge, das Schiedsgericht habe das Umbrella Agreement wortlautwidrig und damit unzutreffend ausgelegt (E. 6). Auch diese Rüge wurde vom Bundesgericht im Ergebnis als nicht stichhaltig verworfen.
[19] Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war (E. 7).
Kommentar
Verhältnis Rechtsprechung internationale Fälle und Binnenfälle
[20] Der vorliegende Entscheid zur Schiedszuständigkeit zeigt vorab, wie eng die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu internationalen und binnenschweizerischen Schiedsfällen verflochten ist: Die Rechtsprechung zur Schiedszuständigkeit in internationalen Konstellationen ist gemäss Bundesgericht auch für Binnenfälle relevant. Es muss und darf davon ausgegangen werden, dass umgekehrt auch die Rechtsprechung aus Binnenfällen für internationale Fälle herangezogen werden kann. Damit zahlt sich die Lektüre von Rechtsprechung zu Binnenfällen auch für vorab international tätige Praktiker aus.
Ausdehnung der Schiedsvereinbarung auf Dritte
[21] Die Ausführungen des Bundesgerichts zur subjektiven Tragweite der Schiedsvereinbarung sind nicht überraschend und entsprechen der ständigen Rechtsprechung. Allerdings verweist das Bundesgericht vorliegend nur auf einen Teil der möglichen Ausdehnungskonstellationen. Der Vollständigkeit halber sind hier die typischen Konstellationen der Ausdehnung der Schiedsvereinbarung auf Dritte nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung zusammengefasst (Urteil des Bundesgerichts 4A_627/2011 vom 8. März 2012 E. 3.2):
- Bei Abtretung einer Forderung, bei einer (einfachen oder kumulativen) Schuldübernahme oder bei einer Vertragsübernahme findet die Ausdehnung regelmässig statt (BGE 134 III 565 E. 3.2).
- Bei Einmischung eines Dritten in den Vollzug eines Vertrages mit einer Schiedsklausel wird angenommen, dieser habe der Schiedsklausel durch konkludentes Handeln zugestimmt und seinen Willen kund getan, Partei der Schiedsvereinbarung zu sein (BGE 134 III 565 E. 3.2).
- Enthält ein echter Vertrag zugunsten eines Dritten eine Schiedsklausel, kann sich der Dritte bei der Durchsetzung seiner Forderung gegenüber dem Promittenten darauf berufen, falls die Schiedsklausel dies nicht ausschliesst (Urteil des Bundesgerichts 4A_44/2011 vom 19. April 2011 E. 2.4.1).
Willkürrüge
[22] Im Zentrum des Interesses steht zudem die Differenzierung des Bundesgerichts betreffend Willkürrüge gemäss Art. 393 lit. e ZPO. Diese Rüge ist nur in Binnenschiedsfällen zulässig.
[23] Das Bundesgericht fokussiert auf den Aspekt der im Gesetzestext erwähnten «offensichtlich aktenwidrigen tatsächlichen Feststellungen» und grenzt diesen von der willkürlichen Beweiswürdigung ab, die in der Rüge nicht enthalten ist (s. auch Urteil des Bundesgerichts 4A_395/2012 vom 16. Oktober 2012 E. 3.1).
[24] Der Beschwerdeführerin obliegt es demnach, aufzuzeigen, dass das Schiedsgericht die Akten inhaltlich nicht korrekt zur Kenntnis genommen hat. Falls das Schiedsgericht die Akten inhaltlich korrekt zur Kenntnis genommen, jedoch in der Folge abwegig gewürdigt hat, ist die vorliegende Rüge gemäss Bundesgericht nicht zulässig.
[25] In einem Beispiel kann diese Differenzierung wie folgt veranschaulicht werden:
- Im Vertrag steht «X».
- Wenn das Schiedsgericht im Entscheid schreibt, «im Vertrag steht Y», steht die relevante Rüge zur Verfügung, denn die Aussage über die Urkunde ist tatsächlich falsch.
- Wenn das Schiedsgericht im Entscheid jedoch schreibt, «im Vertrag steht X, gemeint war nach Überzeugung des Schiedsgericht jedoch Y», steht die relevante Rüge nicht zur Verfügung, da ein Würdigungselement hinzutritt.
[26] Im Resultat überprüft das Bundesgericht nur tatsächliche Versehen des Schiedsgerichts.
Unzulässiges Beweismittel
[27] Im Sinne einer praktisch relevanten Randnotiz ist ersichtlich, dass das Bundesgericht eine «Chronologie der Ereignisse samt Situationsplan», die als Beilage zur Beschwerde eingereicht wurde, als unzulässiges Beweismittel aus den Akten wies.
[28] Es empfiehlt sich also, solche rein zusammenfassenden Beilagen (in Schiedsverfahren oft auch als «demonstrative exhibits» bezeichnet) nicht als Beilagen einzureichen, sondern direkt in die Rechtsschrift zu integrieren.
Zitiervorschlag:
Simon Gabriel, Aktenwidrige Feststellung versus willkürliche Beweiswürdigung, in: dRSK, publiziert am 9. September 2016