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Frist verpasst
Eine Schiedsklägerin hat ihre Klageschrift bei Fristablauf nicht eingereicht. Das Schiedsgericht erinnert die Klägerin spontan an die abgelaufene Frist und setzt gleich eine Nachfrist an, obwohl in den Schiedsregeln ein anderes Vorgehen statuiert ist. Das Bundesgericht hebt den so ergangenen Schiedsentscheid nicht auf. Vor dem ausländischen Vollstreckungsrichter könnte die Klägerin allerdings weniger Glück haben.
Kommentar von Simon Gabriel zu Urteil 4A_405/2016 vom 2. März 2017
Sachverhalt
[1] Am 29. Juli 2015 leitete der Verein B (Kläger und Beschwerdegegner) mit «Notice of Arbitration» ein Schiedsverfahren gegen die lettische Gesellschaft A (Beklagte und Beschwerdeführerin) ein. A antwortete mittels «Answer to the Notice», die eine Widerklage enthielt (E. A).
[2] Die Swiss Chambers’ Arbitration Institution («SCAI») ernannte eine Einzelschiedsrichterin. Diese erliess am 16. Dezember 2015 eine «Constitution Order». Am 14. Januar 2016 erliess sie eine «Procedural Order No. 2», die «nach Absprache und Zustimmung der Parteien», prozessuale Regeln und einen vorläufigen Zeitplan enthielt (E. A).
[3] Gemäss Zeitplan lief die Frist für die vollständige Klageschrift (Statement of Claim) offenbar am 15. Februar 2016 ab. An diesem Datum hat B offenbar keine Eingabe gemacht (E. A).
[4] Vielmehr wandte sich die Schiedsrichterin am 16. Februar 2016 offenbar spontan an A, erkundigte sich nach dem Verbleib der Klageschrift und ersuchte, dass diese gleichentags eingereicht werde, sofern dies noch nicht geschehen sei. Am selben Tag übersandte B schliesslich die Klageschrift (E. A).
[5] In der Folge beantragte A, die Klageschrift sei als verspätet zurück zu weisen und das Verfahren sei betreffend Klage zu beenden (E. A).
[6] Mit Verfügung vom 7. März 2016 wies die Schiedsrichterin den Antrag von A mit der Begründung ab, sie habe die Frist um einen Tag erstreckt und innert erstreckter Frist, sei die Klageschrift schliesslich eingegangen:
«With email of 16 February 2016, the Sole Arbitrator has asked Claimant whether it had already filed its submission and whether it had by any chance not received such email the day before. For the event, Claimant had not done so, the Sole Arbitrator has then explicitly requested Claimant to file its Statement of Claim still the same day and has, thus, granted an extension of 1 day to file such submission. Claimant thereafter filed its Statement of Claim on this 16 February 2016 and has complied with the extended deadline» (E. A).
[7] Das Schiedsverfahren wurde mit Bezug auf Klage und Widerklage fortgesetzt und endete mit einem Schiedsentscheid vom 8. Juni 2016 (E. A).
[8] A verlangte mit Beschwerde in Zivilsachen, der Schiedsentscheid sei aufzuheben. Der Verein B und die Einzelschiedsrichterin beantragten, die Beschwerde sei abzuweisen (E. B).
Entscheid
[9] A rügt, das Schiedsgericht habe gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Parteien sowie den Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG verstossen: Es habe trotz der Fristversäumnis von B dessen Klage zugelassen und das Verfahren diesbezüglich fortgesetzt, statt dieses gemäss den Regeln der Swiss Rules zu beenden. Gleichzeitig sei dieses Vorgehen mit dem prozessualen Ordre public im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG unvereinbar (E. 3.1).
[10] Das Bundesgericht setzt sich zuerst mit der Rüge der Gehörsverletzung und der Ungleichbehandlung auseinander. Es bestätigt seine langjährige Auslegung dieser Grundsätze wie folgt:
- Die Rechtsprechung leitet aus dem Gehörsanspruch insbesondere das Recht der Parteien ab, sich über alle für das Urteil wesentlichen Tatsachen zu äussern, ihren Rechtsstandpunkt zu vertreten, ihre entscheidwesentlichen Sachvorbringen mit tauglichen sowie rechtzeitig und formrichtig offerierten Mitteln zu beweisen, sich an den Verhandlungen zu beteiligen und in die Akten Einsicht zu nehmen.
- Der Grundsatz der Gleichbehandlung gebietet zudem, dass die Parteien während des gesamten Schiedsverfahrens gleich behandelt werden, so dass sie die gleichen Möglichkeiten haben, ihren Standpunkt vorzubringen (E. 3.2).
[11] Eine Verletzung dieser Grundsätze erkennt das Bundesgericht nicht:
[12] Eine Ungleichbehandlung würde gemäss Bundesgericht nur dann vorliegen, wenn A die Klageantwort ebenfalls einen Tag verspätet eingereicht hätte und die Schiedsrichterin die B gewährte Fristerstreckung der A nicht gewährt hätte. Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall (E. 3.3).
[13] Betreffend Gehörsverletzung argumentierte A insbesondere, die Schiedsrichterin habe B in Verletzung zwingender Verfahrensregeln Gehör eingeräumt, wo B keines hätte finden dürfen. Als Antwort auf dieses Argument macht das Bundesgericht folgende Ausführung:
«Der Umstand allein, dass eine im Schiedsreglement vorgesehene Verfahrensregel von den Parteien gewollt und für das Schiedsgericht verbindlich ist, macht diese Regel aber nicht zu einem zwingenden Verfahrensgrundsatz im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG (BGE 117 II 346 E. 1b/aa)».
[14] Zudem erwähnt das Bundesgericht, dass in der Lehre zu den Swiss Rules vertreten werde, dass bei (knapp) verspäteter Klageeinreichung nicht in jedem Fall zwingend die Verfahrensbeendigung angeordnet werden müsse. Damit kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass keine Gehörsverletzung vorliegt, zumal A nicht behauptete, sie sei zur Klage nicht mehr gehört worden (E. 3.3).
[15] Danach setzt sich das Bundesgericht mit der Rüge, der verfahrensrechtliche Ordre public («public policy») sei verletzt worden, auseinander. Die bisherige Auslegung des Begriffs wird ebenfalls bestätigt: Ein Verstoss gegen den verfahrensrechtlichen Ordre public liegt bei einer Verletzung fundamentaler und allgemein anerkannter Verfahrensgrundsätze vor, deren Nichtbeachtung zum Rechtsempfinden in einem unerträglichen Widerspruch steht, so dass die Entscheidung als mit der in einem Rechtsstaat geltenden Rechts und Wertordnung schlechterdings unvereinbar erscheint (E. 3.2).
[16] Ohne nähere Begründung schliesst das Bundesgericht, dass der beanstandete Mangel an formaler Strenge des Schiedsgerichts für sich betrachtet keine fundamentalen und allgemein anerkannten Verfahrensgrundsätze verletzt (E. 3.3).
[17] Damit weist das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt (E. 4).
Kommentar
[18] Der vorliegende Fall ist praktisch relevant und rechtlich spannend weil er drei typische Fragestellungen miteinander verbindet: Erstens, der gerade in internationalen Verfahren immer wieder zu beobachtende «Klassiker» der verpassten Frist. Zweitens, die Frage nach dem Verhältnis von Verfahrensvereinbarungen und prozessualen Minimalgarantien. Drittens, die Frage nach der Konsequenz, wenn sich eine Partei an prozessuale Regeln hält, die andere jedoch nicht.
[19] Erstens: Es ist nicht erstaunlich und wohl auch nicht zu beanstanden, dass sich das Bundesgericht im Ergebnis nicht in das Ermessen des Schiedsgerichts einmischt, Fristen in einem konkreten Fall zu verlängern.
[20] Zweitens: Es scheint unstreitig, dass die Parteien die relevante Frist und die Konsequenz bei Nichteinhalten im Sinne von Art. 182 Abs. 2 IPRG als verbindlich vereinbart hatten («von den Parteien gewollt und für das Schiedsgericht verbindlich»; E. 3.3.). In der Tat sieht Art. 28 Abs. 1 Swiss Rules eine für Schiedsregeln ungewöhnlich scharf formulierte Regel vor:
«If, within the period of time set by the arbitral tribunal, the Claimant has failed to communicate its claim without showing sufficient cause for such failure, the arbitral tribunal shall issue an order for the termination of the arbitral proceedings».
(Art. 28 Abs. 1 Swiss Rules, Hervorhebung hinzugefügt)
[21] Auf welcher Basis sich das Schiedsgericht vorliegend entschieden hat, (i) spontan (d.h. ohne Fristverlängerungsantrag der verspäteten Partei), (ii) ohne Erfragen von Entschuldigungsgründen und (iii) ohne Anhörung der Gegenseite eine Fristverlängerung auszusprechen, geht aus dem Entscheid nicht hervor.
[22] Mit Blick auf die vom Bundesgericht erwähnten Literaturstellen erschiene zumindest eine sorgfältige Abwägung der Interessenslagen der Parteien unter Anhörung aller Betroffenen als sachgerecht (Radjai/Oetiker, in: Zuberbühler und weitere [Hrsg.], Swiss Rules of International Arbitration, 2. Aufl. 2013, N 9 und 14 zu Art. 28; allgemein auch Schneider/Scherer, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 2013, N 87 zu Art. 182 IPRG)
[23] Das Schiedsgericht riskiert jedoch vorliegend, dass der Schiedsentscheid gemäss Art. V.1(d) der New York Convention international nicht vollstreckbar ist, da er dem von den Parteien vereinbarten Verfahren widerspricht (Gabriel, Should Procedural Orders Be Construed as Party Agreements Binding on the Arbitral Tribunal?, ASA Bull. 1/2014, p. 167). Dieses Risiko sollte nach vorliegend vertretener Ansicht nicht leichthin eingegangen werden und die beabsichtigte Hilfestellung an die Klägerin könnte sich leicht in ihr Gegenteil verkehren.
[24] Drittens: Wie wäre der identische Fall zu beurteilen, wenn die Klage rechtzeitig aber die Widerklage verspätet eingegangen wäre? Diesfalls hätte sich die Klägerin bereits an die Verfahrensregeln gehalten und die Beklagte (und Widerklägerin) hätte von einer unvorhersehbaren Regeländerung während des Verfahrens zu ihren Gunsten profitiert.
[25] In einer solchen Konstellation könnte allenfalls das Prinzip von Treu und Glauben mit angerufen werden. Bereits 1989 haben Poudret/Lalive/Reymond festgehalten, dass eine Änderung der Prozessregeln, nachdem sich eine Partei daran gehalten hat, wider Treu und Glauben sein kann. Diese Ansicht wurde in der neueren Lehre wieder aufgenommen (Gabriel/Buhr in: Hausheer & Walter (Hrsg.), Berner Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, Band III, Bern 2014, Rz. 103 zu Art. 373). Der Grundsatz von Treu und Glauben gehört zu den fundamentalen Schweizer Rechtsgrundsätzen (s. BGE 102 Ia 574 E. 6) und dessen Verletzung kann vor Bundesgericht im Zusammenhang mit einer Ungleichbehandlung gerügt werden.
[26] Schliesslich noch ein Detail: Obwohl die Schiedsrichterin einen eigenen Antrag auf Abweisung der Beschwerde gestellt hat (welchem gefolgt wurde), hat ihr das Bundesgericht keine Entschädigung zugesprochen. Damit bleibt es dabei, dass Stellungnahmen des Schiedsgerichts im Beschwerdeverfahren erfolgsunabhängig auf Kosten des Schiedsgerichts gehen.