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Obliegenheit zum Kreuzverhör in Schiedsverfahren?
Das Bundesgericht setzte sich kürzlich mit Fragen des Kreuzverhörs und einer verpassten Frist in einem internationalen Schiedsverfahren auseinander. Der vorliegende Kurzkommentar erörtert die Fragen, wann man einen gegnerischen Zeugen ins Kreuzverhör nehmen sollte und weshalb vereinbarte Fristen problematisch sind.
Kommentar von Simon Gabriel zu Urteil 4A_636/2014 vom 16. März 2015
Sachverhalt
[1] Die A. Corporation (Beschwerdeführerin und Beklagte im Schiedsverfahren) ist eine russische Gesellschaft, die sich mit der Realisierung von Bauprojekten befasst. Die B. SA (Beschwerdegegnerin und Klägerin im Schiedsverfahren) ist eine luxemburgische Gesellschaft, die im internationalen Seebaggergeschäft tätig ist.
[2] Die Parteien hatten die Lieferung von zwei Millionen Kubikmetern eines Gemischs aus Meeressand und Kies zum Preis von EUR 18 Millionen vereinbart. Gemäss Vereinbarung unterlag der Leistungsbeginn der Klägerin gewissen Bedingungen. In der Folge entstanden Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Beklagte diese Bedingungen erfüllt hatte. Die Klägerin kündigte die Vereinbarung und forderte Schadenersatz.
[3] Die Klägerin leitete ein ICC-Schiedsverfahren gegen die Beklagte ein (mit Sitz in Genf) und verlangte die Zahlung einer Schadenersatzsumme von EUR 3.6 Millionen. In der Sache wurde englisches Recht für anwendbar erklärt. Die Klägerin stützte ihre Ansprüche auf Ziffer 12.2 der Vereinbarung: «[…], if all of the conditions […] related to the Commencement Date have not been fulfilled within 15 calendar days from the effective date of the Agreement, the Provider shall be entitled to immediately terminate the contract and […] to a sum payable by the Employer equivalent to 20% of the total Contract value […].»
[4] Die Beklagte argumentierte vor Schiedsgericht insbesondere, dass die geforderte Schadenersatzsumme eine unzulässige Strafzahlung («penalty») unter englischem Recht darstelle und deshalb nicht durchsetzbar sei.
[5] Das Schiedsgericht kam zum Ergebnis, dass die erwähnte Klausel nach englischem Recht durchsetzbar ist, falls die relevante Zahlung gemäss Vertrag den ernsthaften Versuch einer Schätzung der mutmasslichen Verluste nicht übersteigt. Das Schiedsgericht prüfte entsprechend, ob die vereinbarte 20%-Zahlung (i.e. die geforderte Summe von EUR 3.6 Millionen) objektiv dem ernsthaften Versuch einer Schätzung der mutmasslichen Verluste entsprach.
[6] Nach Auffassung des Schiedsgerichts kamen als Schadenspositionen der entgangene Gewinn und der Deckungsbeitrag für die Kosten des Besitzes und Unterhalts eines Baggerschiffes in Frage. Es nahm auf der Grundlage der schriftlichen Zeugenaussagen vom Zeugen E. eine Schätzung dieser Schadenspositionen im Sinne einer Betrachtung ex ante vor. Auf dieser Basis veranschlagte das Schiedsgericht den entgangenen Gewinn auf EUR 1.6 Millionen und die Kosten für den Besitz und Unterhalt des Baggerschiffs auf weit über EUR 2 Millionen.
[7] Entsprechend ist das Schiedsgericht zum folgenden Schluss gelangt: Der Betrag von EUR 3.6 Millionen übersteigt die Höhe der mutmasslichen Verluste basierend auf einem ernsthaften Schätzungsversuch nicht und ist demnach zulässig.
[8] Das Schiedsgericht beachtete zudem für den Kostenentscheid eine Kostennote der Klägerin, die erst vier Tage nach der im Zeitplan vorgesehenen Frist und nach Aufforderung des Vorsitzenden eingereicht wurde.
[9] Mit Schiedsentscheid vom 15. September 2014 verurteilte das Schiedsgericht die Beklagte zur Zahlung der Schadenersatzsumme von EUR 3.6 Millionen. Die Kosten des Schiedsgerichts wurden zu 80% der Beklagten und zu 20% der Klägerin auferlegt und die Beklagte wurde zur Zahlung einer Parteientschädigung an die Klägerin verurteilt.
[10] Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragte die Beklagte dem Bundesgericht, den Schiedsspruch aufgrund (i) Verletzung des rechtlichen Gehörs und (ii) Missachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Parteien aufzuheben.
Entscheid
[11] Das Bundesgericht befasste sich zuerst mit der Rüge betreffend Verletzung des rechtlichen Gehörs (E. 3) und anschliessend mit der Rüge betreffend Missachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes der Parteien (E. 4).
[12] Die Beschwerdeführerin rügte als Verletzung ihres rechtlichen Gehörs insbesondere, dass sich das Schiedsgericht massgeblich auf die schriftliche Zeugenaussage von E. gestützt habe, ohne ihre Einwendungen genügend zu hören. Die schriftliche Zeugenaussage von E. sei insbesondere nicht geeignet gewesen, den notwendigen Beweis betreffend mutmassliche Verluste zu erbringen. Gemäss Duplik der Beschwerdeführerin handelte es sich bei E.s Aussage um eine Parteiaussage, wobei die Bezifferung der Gewinnmarge mit 10% unangemessen gewesen sei und willkürliche Abschreibungskomponenten bei der Berechnung des Deckungsbeitrages verwendet worden seien. Die Gegenseite hätte einen unabhängigen Experten anbieten müssen, um das Beweismass zu erfüllen. Das Schiedsgericht habe diese Vorbringen nicht berücksichtigt und aktenwidrig festgehalten: «we had detailed, and unchallenged, witness evidence from Mr E. concerning the costs […]», worin eine Gehörsverletzung zu erblicken sei.
[13] Das Bundesgericht bestätigte seine ständige Rechtsprechung, wonach das rechtliche Gehör in einem kontradiktorischen Verfahren keinen Anspruch auf Begründung eines internationalen Schiedsentscheids umfasst. Gleichzeitig ergibt sich für die Schiedsrichter dennoch die minimale Pflicht, die entscheidrelevanten Fragen zu prüfen und zu behandeln. Diese Pflicht verletzt das Schiedsgericht, wenn es versehentlich oder aufgrund eines Missverständnisses rechtserhebliche Behauptungen, Argumente, Beweise oder Beweisanträge einer Partei unberücksichtigt lässt. Das Schiedsgericht muss sich jedoch nicht ausdrücklich mit jedem einzelnen Vorbringen der Parteien auseinandersetzen (E. 3.2 mit Verweis auf BGE 133 III 235, E. 5.2).
[14] Gemäss Bundesgericht verletzte das Schiedsgericht im vorliegenden Fall den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht, wenn es nicht ausdrücklich aufführte, dass die Beschwerdeführerin die Anwendbarkeit einer allgemeinen Gewinnmarge in Frage stellte. Allein der Umstand, dass Beweise zu dieser Behauptung abgenommen wurden, legt gemäss Bundesgericht dar, dass sich das Schiedsgericht tatsächlich mit den Einwendungen der Beschwerdeführerin befasste. Gemäss Bundesgericht kritisierte die Beschwerdeführerin daher lediglich (in unzulässiger Weise) die Beweiswürdigung des Schiedsgerichts. Anders würde es sich verhalten, wenn von der Beschwerdeführerin angebotene Beweise für eine geringere Gewinnmarge übergangen worden wären, was allerdings nicht gerügt wurde (E. 3.3).
[15] Auch hinsichtlich des Deckungsbeitrages vermochte die Beschwerdeführerin gemäss Bundesgericht keine Gehörsverletzung aufzuzeigen: Während die Beschwerdegegnerin die Zeugenaussage von E. offerierte, verzichtete die Beschwerdeführerin auf eigene Beweisanträge. Die Beschwerdeführerin verzichtete offenbar auch auf Fragen an den Zeugen E. im Rahmen eines Kreuzverhörs. Dem Schiedsgericht war auch nicht entgangen, in welcher Beziehung der Zeuge zur Beschwerdegegnerin stand, sondern es führte auf, dass es sich um den Regionalverantwortlichen der C‑Gruppe für Nord- und Südostasien handelte. Deshalb war der Vorwurf, das Schiedsgericht habe die Vorbringen der Beschwerdeführerin bezüglich des Beweiswerts der Zeugenaussage E. übergangen, gemäss Bundesgericht nicht stichhaltig.
[16] Das Bundesgericht hielt deshalb die Rüge der Verletzung des Gehörsanspruchs nach Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG für unbegründet.
[17] Eine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Parteien sah die Beschwerdeführerin darin begründet, dass das Schiedsgericht die gegenseitig «vereinbarten» Fristen nicht beachtet habe. Die Beschwerdegegnerin habe ihre Kostennote erst vier Tage nach Frist gemäss Zeitplan (auf Aufforderung des Vorsitzenden) eingereicht und damit die Frist verpasst. Diesen Umstand habe die Beschwerdeführerin umgehend gerügt. Dennoch habe sich das Schiedsgericht in seinem Entscheid über die Höhe der Parteientschädigung auf die Kostennote gestützt und die Beschwerdeführerin zu einer entsprechenden Entschädigung verpflichtet (E. 4.1).
[18] Das Bundesgericht wies auch diese Rüge ab. Die Beschwerdeführerin vermochte gemäss Bundesgericht nicht aufzuzeigen, inwiefern «der Gegenpartei […] im Rahmen des Verfahrens etwas gewährt worden [ist], was ihr [der Beschwerdeführerin] verweigert wurde […]» E. 4.2.). Die Beschwerdeführerin werfe dem Schiedsgericht vielmehr eine unzutreffende Anwendung der konkret anwendbaren Schiedsordnung vor. Dies allein reiche jedoch nicht aus, um einen internationalen Schiedsspruch aufzuheben (E. 4.2 mit Verweis auf BGE 126 III 249 E. 3b).
[19] Das Bundesgericht stellte somit fest, dass auch keine Verletzung des Gleichhandlungsgebots gemäss Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG bestand.
Kommentar
Fragestellungen
[20] Der Entscheid des Bundesgerichts enthält keine inhaltlichen Überraschungen, sondern bestätigt vielmehr die bisher geltende Praxis.
[21] Der im Entscheid wiedergegebene Sachverhalt betrifft jedoch zwei praktisch relevante Themen, die in der Folge kurz erörtert werden: Die Notwendigkeit eines Kreuzverhörs und die Beachtung vereinbarter Fristen durch das Schiedsgericht.
Notwendigkeit des Kreuzverhörs
[22] Bei der Frage zum rechtlichen Gehör hat sich offenbar der folgende Verfahrensablauf zugetragen:
- Die Klägerin hat spätestens in der Replik behauptet, dass die mutmasslichen Verluste aus nicht Zustandekommen des Vertrags mindestens EUR 3.6 Millionen betragen. Als (einzigen) Beweis hat sie den parteinahen E. als Zeugen angeboten.
- Die Beklagte hat die behaupteten mutmasslichen Verluste spätestens in der Duplik bestritten und auch Inhalt und Glaubwürdigkeit von E.s Aussagen in Frage gestellt. Selbst hat sie keine Beweismittel zum Thema angeboten.
- An der Zeugenverhandlung ist E. wohl erschienen, wurde von der Beklagten allerdings nicht im Kreuzverhör befragt.
- Der letztgenannte Umstand hat das Schiedsgericht offenbar dazu veranlasst, von einer unbestrittenen Zeugenaussage zu sprechen («unchallenged witness evidence»). Diese Aussage hat die Beklagte irritiert, da sie die Aussage von E. in der Duplik kommentiert und deren Richtigkeit bestritten hatte.
[23] Die Ereignisse werfen die Frage auf, ob ein Zeuge, dessen schriftliche Aussage in den Schriftsätzen bestritten wird, im Kreuzverhör mit den Kritikpunkten konfrontiert werden muss. Die Beklagte war offenbar der Meinung, dies sei nicht notwendig. Das Schiedsgericht hingegen unterstellte mangels Kreuzverhör «unchallenged witness evidence» und betrachtete den Beweis als erbracht.
[24] Die folgenden Kommentare basieren auf den Richtlinien der IBA (i.e. IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration, 2010 edition; IBA Evidence Rules).
[25] Falls der Zeuge nicht zur Zeugenverhandlung geladen wird, gilt grundsätzlich freie Beweiswürdigung der schriftlichen Zeugenaussage unter Berücksichtigung aller Umstände. Insbesondere gilt der Inhalt der schriftlichen Zeugenaussage als nicht zugestanden (Artikel 4.8 IBA Evidence Rules).
[26] Es stellt sich die Frage, was gilt, wenn der Zeuge zur Verhandlung erscheint und zu gewissen schriftlichen Aussagen nicht im Kreuzverhör befragt wird.
- Gemäss IBA Evidence Rules kann jede Partei verlangen, dass ihre eigenen Zeugen zur Verhandlung geladen werden. Durch eine angenommene Obliegenheit zum Kreuzverhör könnte eine Partei die Gegenpartei zu umfassendem Kreuzverhör oder Anerkennung der Aussagen ihrer Zeugen zwingen. Eine solche Regel oder Obliegenheit ist nach hier vertretener Ansicht aus den IBA Evidence Rules nicht abzuleiten.
- In gewissen Common Law-Jurisdiktionen muss jede Partei einen gegnerischen Zeugen mit ihrer Position und seinen bestrittenen Aussagen konfrontieren (vgl. z.B. UK High Court: EPI Environmental Technologies Inc and another v Symphony Plastic Technologies plc and another [2005] 1 WLR 3456, sec. 74: «Third, I regard it as essential that witnesses are challenged with the other side’s case. This involves putting the case positively »). Eine solche Regel lässt sich nach hier vertretener Ansicht ebenfalls nicht aus den IBA Evidence Rules ableiten und müsste spezifisch in den Verfahrensverfügungen enthalten sein, um Geltung zu erlangen.
Im Ergebnis gibt es nach hier vertretener Ansicht keine Regel, wonach schriftliche Zeugenaussagen, die im Kreuzverhör nicht thematisiert wurden, als anerkannt (oder unbestritten) gelten würden. Wenn eine Partei den Sachvortrag und die schriftlichen Aussagen eines gegnerischen Zeugen in den Schriftsätzen substantiiert bestreitet, dürfen diese nicht als unbestritten unterstellt werden. Es muss eine Beweiswürdigung durch das Schiedsgericht stattfinden.
[27] Gleichzeitig ist das Schiedsgericht in der Beweiswürdigung frei. Wenn es sich von einem einzigen parteinahen Zeugen in Würdigung aller Umstände und Vorbringen überzeugen lässt, ist daran nichts auszusetzen.
[28] Als Lehre für die Praxis könnte dieses Beispiel bedeuten, dass auf Kreuzverhör eines an der Verhandlung anwesenden gegnerischen Zeugen nicht leichtfertig verzichtet werden sollte, falls die Konsequenzen unklar sind. Das Bundesgericht wird allfällige Missverständnisse über die Bedeutung eines ausbleibenden Kreuzverhörs gemäss vorliegendem Entscheid jedenfalls nicht im Rahmen von Art. 190 Abs. 2 IPRG überprüfen.
Beachtung vereinbarter Fristen
[29] Bei der Frage zur Gleichbehandlung der Parteien könnte relevant sein, ob die Fristen im Zeitplan tatsächlich von den Parteien «vereinbart» waren, wie die Beschwerdeführerin vorbringt.
[30] Falls eine Parteivereinbarung zum Verfahren vorliegen würde, wäre diese gemäss Artikel V.1(d) New York Übereinkommen verbindlich. Die Nichtbeachtung durch das Schiedsgericht kann zwar nicht vor dem Bundesgericht, aber sehr wohl im Vollstreckungsstadium gerügt werden (vgl. Simon Gabriel, Should Procedural Orders Be Construed as Party Agreements Binding on the Arbitral Tribunal?, ASA Bull. 1/2014, S. 167 f. and S. 170; Patricia Nacimiento in: Kronke et al., Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards, Kluwer 2010, S. 294; für den deutschen Leitentscheid, vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 17. Februar 2011 – 26 Sch 13/10, publiziert in: SchiedsVZ 2013, Heft 1, S. 49 ff.).
[31] Nach vorliegend vertretener Ansicht sollte eine Parteivereinbarung nicht bereits angenommen werden, weil Parteien während einer Organisationskonferenz gemeinsam mit dem Schiedsgericht Fristen im Zeitplan abgesprochen haben (vgl. für eine ausführliche Begründung: Simon Gabriel, Should Procedural Orders Be Construed as Party Agreements Binding on the Arbitral Tribunal?, ASA Bull. 1/2014, S. 172).
[32] Liegen allerdings qualifizierte Hinweise vor, dass Fristen tatsächlich als Verfahrensvereinbarungen gemäss Artikel 182 Absatz 2 IPRG fixiert wurden, wären diese für das Schiedsgericht verbindlich. Eine Aufforderung des Vorsitzenden, eine Eingabe nach Fristablauf noch einzureichen, könnte die Verspätung ebenfalls nicht rechtfertigen. Nichtbeachtung dieser vereinbarten Fristen könnte, wie bereits erwähnt, die internationale Vollstreckung gefährden.
Zitiervorschlag:
Simon Gabriel, Obliegenheit zum Kreuzverhör in Schiedsverfahren?, in: dRSK, publiziert am 26. Juni 2015