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Nicht entschieden oder nicht gehört?
Der vorliegende Entscheid vergegenwärtigt die Praxis der strengen Rügepflicht im Beschwerdeverfahren. Er illustriert zudem praktisch die bei der Anfechtung von Schiedsentscheiden notwendige Abgrenzung der Rüge nicht beurteilter Rechtsbegehren (Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG, «infra petita») von der Rüge der rechtlichen Gehörsverletzung (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG).
Kommentar von Simon Gabriel zu Urteil 4A_218/2015 vom 28. Oktober 2015
Sachverhalt
[1] Nach dem Tod des Erblassers Y entstand ein Streit unter seinen Erben: Seine Tochter X einerseits (Beklagte im Schiedsverfahren und Beschwerdegegnerin im bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren; «Frau X») und seine Ehefrau sowie seine drei Söhne andererseits (Kläger im Schiedsverfahren und Beschwerdeführer im bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren; «Beschwerdeführer») waren über die Erbfolgen uneinig.
[2] In einer aussergerichtlichen Vereinbarung vom 8. März 2011 («Vereinbarung») einigten sich Frau X und die Beschwerdeführer auf die Verteilung des Nachlasses von Y. Für allfällige Streitigkeiten aus der Vereinbarung vereinbarten sie die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts mit Sitz in Genf (E. A). Art. 11.1 der Vereinbarung bestimmte, dass bei einem (teilweisen) Nichtvollzug der Vereinbarung die fehlbare Partei eine Konventionalstrafe zu entrichten habe. Die gleiche Konventionalstrafe wurde vereinbart, falls sich eine der Parteien an das Schiedsgericht wenden und im Schiedsverfahren unterliegen würde. Nach Art. 11.2 der Vereinbarung durfte die so geschädigte Partei sowohl den Vollzug der Vereinbarung als auch die Bezahlung der Konventionalstrafe verlangen (E. 3.2).
[3] Am 9. Januar 2012 widerrief Frau X die Vereinbarung teilweise. Die Beschwerdeführer ihrerseits erklärten die Vereinbarung am 7. März 2012 für ungültig (E. A).
[4] Am 6. März 2013 leiteten die Beschwerdeführer ein Schiedsverfahren gegen Frau X beim Chambre de commerce, d’industrie et des services de Genève («CCIG») ein (E. B).
[5] Die Beschwerdeführer beantragten vor dem Schiedsgericht (i) Feststellung, dass sie die Vereinbarung am 7. März 2012 rückwirkend per 8. März 2011 rechtsgültig für ungültig erklärt hatten, (ii) Verpflichtung zur Rückzahlung einer bestimmten Summe an den Nachlass durch Frau X und (iii) Verpflichtung von Frau X zur Zahlung einer weiteren Summe an die Beschwerdeführer. Eventualiter beantragten sie (i) Feststellung der Nichtigkeit einzelner Vereinbarungsklauseln (insbesondere des Art. 11), sowie (ii) Bezahlung der gleichen Summen durch Frau X wie in den Hauptbegehren. Subeventualiter forderten die Beschwerdeführer das im Hauptbegehren und im Eventualbegehren Beantragte mit dem Unterschied, dass Geldleistungen in Schweizer Franken anstelle von Euro verlangt wurden (E. B).
[6] Frau X beantragte im Schiedsverfahren die Abweisung der Klage und verlangte widerklageweise (i) solidarische Verurteilung der Beschwerdeführer zur Zahlung einer Konventionalstrafe zuzüglich 5% Zins ab 9. Januar 2012, (ii) Feststellung der Gültigkeit des Vereinbarungswiderrufs, sowie (iii) Verpflichtung der Beschwerdeführer, eine am 24. Oktober 2013 eingeleitete Klage vor dem staatlichen Gericht zurückzuziehen (verbunden mit einer Busse für jeden Tag der Verletzung dieser Pflicht; E. B). Die Beschwerdeführer beantragten im Schiedsverfahren Nichteintreten auf die Widerklage und eventualiter deren Abweisung (E. B).
[7] Mit Schiedsentscheid vom 19. März 2015 wies das Schiedsgericht sämtliche Rechtsbegehren der Beschwerdeführer ab. Die Widerklage hiess es teilweise gut und verpflichtete die Beschwerdeführer solidarisch, eine bestimmte Summe in Euro an Frau X zu bezahlen (als Konventionalstrafe gestützt auf Art. 11 der Vereinbarung, vgl. E. 2.2). Alle übrigen Anträge der Widerklage wurden durch das Schiedsgericht abgewiesen (E. B).
[8] Die Beschwerdeführer gelangten mit Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht und beantragten die Aufhebung des Schiedsurteils wegen Verletzung von Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG (infra und ultra petita Rügen). Frau X beantragte die Abweisung der Beschwerde.
Entscheid
[9] Das Bundesgericht befasste sich mit der infra petita (E. 2) und der ultra petita Rüge (E. 3) je einzeln:
[10] Die Rüge der infra petita begründeten die Beschwerdeführer mit dem Vorwurf, das Schiedsgericht habe in seinem Entscheid ihre Eventualbegehren nicht behandelt, indem es die Nichtigkeit einzelner Klauseln der Vereinbarung nicht geprüft habe.
[11] In diesem Zusammenhang führte das Bundesgericht aus, unbeurteilte Rechtsbegehren im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG stellten eine formelle Rechtsverweigerung dar. Diese Rüge sei aus Art. 36 lit. c des Konkordats über die Schiedsgerichtsbarkeit übernommen worden. Unter «Rechtsbegehren» seien die Anträge («demandes») oder Begehren («conclusions») der Parteien zu verstehen. Von dieser Rüge seien demnach unvollständige Schiedsentscheide erfasst, namentlich wenn das Schiedsgericht einen ihm unterbreiteten Antrag nicht entschieden habe. Hat das Schiedsgericht generell sämtliche anderen oder weiteren Begehren der Parteien im Entscheiddispositiv abgewiesen, ist eine infra petita Rüge gemäss Bundesgericht unbegründet. Auch könne in diesem Fall nicht geltend gemacht werden, das Schiedsgericht habe eine für die Lösung des Rechtsstreits wichtige Frage unbeurteilt gelassen (E. 2.1 mit Hinweis auf BGE 128 III 234 E. 4a).
[12] Das Bundesgericht führte sodann zum konkreten Fall aus, die Vorinstanz habe formell alle Rechtsbegehren der Beschwerdeführer abgewiesen. Bei der Rüge, der Schiedsentscheid befasse sich nicht mit der teilweisen Nichtigkeit der Vereinbarung, gehe es materiell nicht um eine infra petita Rüge, sondern vielmehr um die Rüge einer Gehörsverletzung (E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 133 III 235 E. 5.2). Eine Gehörsverletzung sei vor Bundesgericht jedoch nicht gerügt worden und sei daher nicht zu hören. Zudem habe das Schiedsgericht die Gültigkeit der im Eventualbegehren erwähnten Klauseln implizit im Schiedsentscheid festgehalten, so insbesondere die Gültigkeit von Art. 11 der Vereinbarung. Namentlich stützte es seinen Entscheid betreffend Konventionalstrafe exakt auf diese Klausel.
[13] In der Konsequenz erachtete das Bundesgericht die Rüge einer Entscheidung infra petita nach Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG als unbegründet.
[14] Mit ihrer ultra petita-Rüge erhoben die Beschwerdeführer den Vorwurf, das Schiedsgericht sei über ein Rechtsbegehren von Frau X hinausgegangen (E. 3).
[15] Die Beschwerdeführer machten konkret geltend, Frau X habe im Rechtsbegehren der Widerklageschrift betreffend Konventionalstrafe (vgl. Art. 11 der Vereinbarung) den 9. Januar 2012 als Datum für den Beginn der Zinszahlungspflicht genannt. Dieses Rechtsbegehren könne daher nur so ausgelegt werden, dass es lediglich Verletzungen von Art. 11 der Vereinbarung erfasse, welche vor dem 9. Januar 2012 stattgefunden haben. Eine entsprechende Verletzung vor dem 9. Januar 2012 sei jedoch mangels hinreichender Beweismittel durch das Schiedsgericht gerade nicht bestätigt worden. Nach Ansicht der Beschwerdeführer erfasste das Rechtsbegehren jedoch nicht allfällige Verletzungen von Art. 11 der Vereinbarung, welche nach dem 9. Januar 2012 stattgefunden hatten. Das Rechtsbegehren beziehe sich damit gerade nicht auf angebliche Verletzungen von Art. 11 durch (i) Einleitung eines staatlichen Verfahrens (24. Oktober 2013) und (ii) durch Unterliegen im Schiedsverfahren (Datum des Schiedsentscheids: 19. März 2015). Die Verurteilung zur Zahlung einer Konventionalstrafe aufgrund dieser beiden (vom Rechtbegehren nicht erfassten) Verletzungen im Schiedsentscheid, stelle daher eine Entscheidung ultra petita dar (E. 3.2).
[16] Das Bundesgericht verwies auf die bisherige Rechtsprechung, wonach Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG angerufen werden könne, wenn in einem Schiedsentscheid mehr oder etwas anderes zugesprochen werde, als beantragt. Es liege jedoch keine Entscheidung ultra petita vor, wenn der Anspruch in rechtlicher Hinsicht ganz oder teilweise abweichend von den Begründungen der Parteien gewürdigt werde, sofern er vom Rechtsbegehren gedeckt sei. Ebenfalls liege keine Entscheidung ultra petita vor, wenn bei einer negativen Feststellungsklage im Entscheiddispositiv an Stelle einer Klageabweisung die Existenz eines bestrittenen Rechtsverhältnisses festgehalten werde. Das Prinzip né eat iudex ultra petita partium werde auch dann nicht verletzt, wenn ein Rechtsbegehren rechtlich anders qualifiziert werde, als von den Parteien vorgebracht. Der Grundsatz iura novit curia, welcher auch im Schiedsverfahren Anwendung finde, verpflichte das Schiedsgericht, das Recht von Amtes wegen anzuwenden, ohne sich auf die Begründung der Parteien zu beschränken. Dies bedeute, die Tatsachen des Falles rechtlich neu zu qualifizieren und gerade nicht, etwas anderes, als verlangt wurde, zuzusprechen (E. 3.1 mit Hinweis auf Urteil des Bundesgerichts 4A_709/2014 vom 21. Mai 2015 E. 4.1).
[17] Zum konkreten Fall verwies das Bundesgericht auf Art. 11.1 und 11.2 der Vereinbarung sowie auf Ziffer 1 der Rechtsbegehren in der Widerklageschrift, worin Frau X die Zahlung einer Konventionalstrafe solidarisch durch die Beschwerdeführer zuzüglich 5% Zins seit dem 9. Januar 2012 beantragt hatte. Es verwies ebenfalls auf das Entscheiddispositiv des Schiedsgerichts, in welchem das Schiedsgericht die Beschwerdeführer solidarisch verpflichtet habe, eine bestimmte Summe in Euro zu bezahlen. Das Bundesgericht hielt fest, dass das Schiedsgericht im Rahmen der von Frau X gestellten Rechtsbegehren geblieben sei. Die vom Schiedsgericht zugesprochene Summe sei kleiner, als die von Frau X beantragte Summe und es wurde zudem keine Zinszahlung zugesprochen. Das Bundesgericht befand zudem, dass aus dem Wortlaut der Widerklageschrift nicht hervorgehe, dass Frau X ihre Begehren im Sinne der Auslegung der Beschwerdeführer beschränkte. Vielmehr gehe aus der letzten Rechtsschrift von Frau X genau das Gegenteil hervor (E. 3.2).
[18] Im Ergebnis erachtete das Bundesgericht auch die Rüge einer Entscheidung ultra petita nach Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG als unbegründet.
Kommentar
[19] Der vorliegende Entscheid des Bundesgerichts lädt zu drei kurzen und praktisch relevanten Kommentaren ein:
[20] Erstens unterstreicht der Entscheid die strenge Rügepflicht bei der Schiedsbeschwerde nach Art. 190 Abs. 2 IPRG in Verbindung mit Art. 77 Abs. 3 BGG (Klett in: Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl., Basel 2011, N 8 zu Art. 77 BGG): Die Beschwerdeführer haben klar gemacht, dass sie die fehlende Beurteilung einzelner Klauseln der Vereinbarung auf deren behauptete Nichtigkeit hin rügen. Zu diesem Zweck haben sie allerdings nur die Rüge nach Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG (infra petita) vorgetragen.
[21] Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass aufgrund der vollständigen Abweisung aller Rechtsbegehren der Beschwerdeführer im Schiedsentscheid keine infra petita Konstellation vorliegen könne. Wenn überhaupt, könnte es sich gemäss Bundesgericht höchstens um eine Verletzung des rechtlichen Gehörs handeln. Eine solche wurde jedoch nicht ausdrücklich gerügt und wurde daher vom Bundesgericht auch nicht geprüft (E. 2.2). Die unterbliebene Prüfung ist die Konsequenz der strengen Rügepflicht nach Art. 77 Abs. 3 BGG.
[22] Um der infra petita-Rüge vorzubeugen, weisen Schiedsgerichte in der Praxis oft am Ende des Entscheiddispositivs «alle weiteren Begehren der Parteien» ab.
[23] Zweitens stellt sich die – wie gesehen – relevante Frage nach der korrekten Abgrenzung zwischen der infra petita Rüge und der Rüge einer Gehörsverletzung: Das Bundesgericht wendet strikt formelle Kriterien an, was im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüssen ist: Die infra petita Rüge zielt auf einen Vergleich zwischen den formellen Rechtsbegehren einer Partei und dem Urteilsdispositiv. Nur wenn ein formelles Rechtsbegehren im Urteilsdispositiv unbeurteilt bleibt, liegt ein Entscheid infra petita vor.
[24] Die Rüge der Gehörsverletzung zielt demgegenüber auf die Frage, ob eine Partei zum relevanten Parteivortrag zugelassen und dieser vom Schiedsgericht gehört wurde. Typischerweise spricht das Bundesgericht vom Recht der Parteien, sich über alle für das Urteil wesentlichen Tatsachen zu äussern, ihren Rechtsstandpunkt zu vertreten, ihre entscheidwesentlichen Sachvorbringen mit tauglichen sowie rechtzeitig und formrichtig offerierten Mitteln zu beweisen, sich an den Verhandlungen zu beteiligen und in die Akten Einsicht zu nehmen. Eine umfassende Begründungspflicht besteht hingegen für internationale Schiedsentscheide nicht (Urteil des Bundesgerichts 4A_684/2014 vom 2. Juli 2015 E. 4.2; Gabriel, Schiedsentscheid extra petita wegen US-Dollar statt Euro?, in: dRSK, publiziert am 21. Oktober 2015, Rz. 29 ff.).
[25] Die Abgrenzung sollte nach dem vorliegenden Entscheid und dem Gesagten praktikabel sein. Im Zweifel bleibt es Praktikern gleichzeitig unbenommen, beide Rügen ausdrücklich und begründet vorzutragen. Das doppelt genähte Vorgehen erscheint immer noch eleganter, als die Beschwerdeabweisung hinzunehmen, weil die falsche Rüge gewählt wurde.
[26] Drittens stellt sich die Frage, ob es bei der ultra petita Rüge allein auf den Wortlaut der Rechtsbegehren ankommt oder ob weitergehende Gesichtspunkte Berücksichtigung finden können: Die Beschwerdeführer hatten die ultra petita Rüge mit einem besonders subtilen Argument zur Auslegung der gegnerischen Rechtsbegehren erhoben (vgl. oben, Rz. 15). Rein logisch mag das Argument aufgehen. Gleichzeitig lässt es die wiederum strikt formelle Anwendung des ultra petita Grundsatzes durch das Bundesgericht ausser Acht: Solange sich das Entscheiddispositiv betrags- und währungsmässig innerhalb der Rechtsbegehren bewegt, liegt kein Entscheid ultra petita vor (Gabriel, Schiedsentscheid extra petita wegen US-Dollar statt Euro?, in: dRSK, publiziert am 21. Oktober 2015, Rz. 18).
[27] Die rechtliche Würdigung steht dem Schiedsgericht zudem (innerhalb der Grenzen des Überraschungsverbots) gemäss dem Grundsatz iura novit curia frei. Selbst wenn Frau X tatsächlich eine rechtlich widersprüchliche Position betreffend Hauptbegehren und Zinsforderung vertreten hätte, dürfte das Schiedsgericht seiner eigenen (richtigen) rechtlichen Würdigung des erstellten Sachverhalts folgen, solange es im Rahmen der Rechtsbegehren urteilt.
[28] Der vorliegende Entscheid ist im Resultat keine Überraschung. Er ist gleichzeitig hilfreich, um sich die Konsequenzen der strengen Rügepflicht und die Abgrenzung zwischen den Rügen der infra petita und des rechtlichen Gehörs zu vergegenwärtigen.
Zitiervorschlag:
Simon Gabriel, Nicht entschieden oder nicht gehört?, in: dRSK, publiziert am 16. März 2016